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„Berliner Schule“

Bitte lass mich schlafen

Bitte sei so nett

Weck mich heut auf keinen Fall

Lass mich in meinem Bett“


Auf „Berliner Schule“ sammelte Farin Urlaub laut Untertitel „Fragwürdige Heimaufnahmen von 1984 bis 2013“ und, wenn man die Hülle aufklappt prangt einem fettgedruckt „You´re entering a world of pain“ entgegen.

Hinter diesen ominösen Worten verbergen sich Demos und unveröffentlichte Songs und lassen vermuten der große Blonde hat seinen Giftschrank entrümpelt. Keine Angst! Von ruckelnden Aufnahmen oder einminütigen Songschnipseln keine Spur. Hier gibt es einen sauberen Klang und durchdachte Ideen.

Das Doppelalbum erschien am 13. Oktober 2017 auf Völker hört die Tonträger und dokumentiert chronologisch auf Teil I die Zeit von den Anfängen bis zur legendären „13“ und auf Teil II die ab 2000.

Dass es sich hier nicht um ein regulär konzipiertes Studioalbum handelt, ist deutlich zu erkennen. Die meisten Elemente sind unausgegoren und ihr Zusammenspiel ist offensichtlich erzwungen. Verwässerte Farben und ungewohnte Facetten, geometrische Formen mit unsteten Rändern sowie wellig-weiche und langgestreckte Figuren. Noch dazu bietet es in seinen 29 Objekten alle Farben (Primär-, Sekundär- sowie Tertiärfarben und Nichtfarben) und spielt sie sowohl in lauten als auch leisen, tiefen und hohen Tönen. All das zugleich dynamisch und ausgeglichen zu kombinieren stellte mich vor eine Herausforderung. Diesmal galt es ja nicht nur eine in sich geschlossene Komposition für je eine Leinwand zu gestalten, sondern noch eine übergeordnete für beide zusammen.

Die habe ich eher über Farbverteilung als über Kontraste hergestellt und ich bediente mich der altbewährten Stapeltechnik, die mir bei fast allen Farin Urlaub und FURT-Alben beim Bildaufbau geholfen hat. Linksbündig habe ich von „Bernd hat es gemacht“ bis „Bestimmt...!“ alle waagerechten Elemente übereinander gelegt.



"Berliner Schule Teil I (unten) & Teil II (oben)", 29. Mrz 2018, 40x60cm, Acryl auf Leinwand


Den Titel „Berliner Schule“ habe ich in die Komposition zu Teil I eingearbeitet. Eine große, aber zusammengestauchte, Wolke in einem dünnen Beige hängt in der oberen Bildhälfte. An ihrer rechten Seite sitzt eine dunkelrote Klemme, die weite Ausläufer hat mit denen ich die sehr wässrigen Übergänge zwischen den einzelnen Liedern harmonisierte.

Die restlichen beigen Elemente konzentrieren sich unter der Wolke. „Turmstraße“ ist nach der Straße in der Farin und Bela B (damals noch Jan und Dirk) ihre zweite WG zusammen hatten benannt und das älteste noch erhaltene Demo aus dieser Zeit, zumindest was Unveröffentlichtes anbelangt. Auch wenn FU eine Vorgabe für eine Gesangslinie drauf gesummt hat, entstand nie ein fertiger Text dazu. Ein Ausschnitt der Komposition begegnete uns erst 1996 bei der Single „3-Tage-Bart“. Zu sehen sind ein knolliger beiger und ein dünner, roter Streifen, die aufeinander zulaufen bis sie aneinander stoßen.

Daran angelagert ist ein weiterer knallroter Streifen in „A.U.S.T.R.A.L.I.E.N.“, an dem eine gerundete Fläche in einem samtenen hellrot und einem Beige, das so dünnflüssig ist, dass seine Adern zum Vorschein kommen, hängt.

Stechendes Rot dominiert die Bildfläche. Teil II beginnt mit einer winzigen roten Form, die sich in der unteren Bildseite am linken Rand zwischen Ausläufern des Titels tarnt. Es ist das „Intro“ bei dem kein Geringerer als Rod González am Schlagzeug saß. Hat er bei einem Besuch mal so eben rausgeschüttelt. Dank seiner schönen Melodie schaffte es das Lied immerhin noch in das FURT- B-Seiten-Repertoire.

An der unteren linken Ecke wälzt sich eine Wolke aus verschiedenen ineinander verwobenen Rotfacetten ins Bild. Um die nahtlosen Übergänge hinzubekommen, habe ich die einzelnen Töne auf der Leinwand direkt übereinander gestrichen. Heute schämt sich Farin für den frauenfeindlichen Text von „Christine“, den er 1986 verfasste. Spannend wie sich Interpretationen mit der Perspektive ändern. Ich habe die Zeilen folgendermaßen verstanden: Männliches Flirtverhalten, das jede Frau kennt. Man wird von ihm mit einem mehr oder weniger charmanten Kompliment angesprochen und vielleicht zu etwas eingeladen. Lehnt aus Desinteresse ab. Und wird mit den Worten „Okay, du bist eh hässlich, du Schlampe!“ verabschiedet. Für mich schien der Text aus Sicht eines beleidigten Mannes geschrieben. Die erwähnte Christine sei „dämlich“, weil sie schon mehrfach Einladungen von ihm abgelehnt hat.

Der Rotlastigkeit war mit einem Komplementärkontrast nicht bei zu kommen, da reines Grün kaum zu hören ist. Der nach oben drängende, abgerundete Bogen in Erbse ist das wirklich gute „Ich bin allein“. Es war ein Vorschlag für „Die Bestie in Menschengestalt“ auf den Bela mit ernster Sorge reagierte. Was Farin wiederum sehr rührte, aber er konnte ihn beruhigen, das Lied ist nicht autobiografisch.

Dagegen beschreibt er in „1000 Jahre tot“ die Heroinexperimente einer Bekannten. Die Marimba und der eingängige Rhythmus erzeugen das verwaschen-hellgrüne Nest mit den tanngrünen und schlammbraunen Ranken, an das sich Flecken in Gelb, Rot und Beige anschließen.

Von den Grundfarben ist Blau am wenigsten vertreten, zeigt dafür aber zwei der schönsten Objekte. In „Abzweig Leipzig“ erklingt eine Welle aus einem trockenen Kobalt und Steinblau, die durch einen kleinen dunkelblauen Nachthimmel schwebt.

Außerdem höre ich noch ein ultramarinfarbenes Band mit schwarzblauen Rändern in „Warum auch immer“. Da es so schmal und wendig ist, habe ich es als Lückenfüller benutzt. Der Song war sozusagen eine Auftragsarbeit für die Band EL*KE, die ihn leicht verändert auch veröffentlichten.

Gelb agiert nur in Nebenrollen, z.B. bei „Uncool“, wo es einen schweren dunkelbraunen Kreis trägt, dessen schwarzbrauner Rahmen nach unten in ein Orangerot übergeht. Diese Punkrock-Nummer entstand in der erneuten Annäherungsphase zwischen Farin und Bela B. (damals noch mit Punkt) in den frühen 90ern.

„Bitte lass mich schlafen“ ähnelt ihr so sehr, dass ich sie symmetrisch in die linke Seite setzte um die rote Aufregung zu bändigen. Das Gebilde ist aber kleiner und das Braun schmiert einen schmutzigen Schleier über das Gelb. Mir als leidenschaftliche Langschläferin spricht das Lied natürlich aus dem Herzen und ist deshalb vom kompletten Album mein Favorit. Leider gibt es auf Farin Urlaubs YouTube-Kanal keine einzelnen Videos, sondern lediglich eine Zusammenfassung beider CDs bei der in jeden Song kurz reingehört wird.



Teil II zeigt eine Kette von abwechselnd gelben und schwarzen Lappen, die entweder über lose Wellen oder feste, flauschige Gummis verbunden sind. Zudem alternieren die einzelnen Glieder in der Größe. So zieht sie sich durch das ganze „The Power of Blöd“, aber aus Platzgründen habe ich sie nur angedeutet. Er schrieb den Song in vollem Bewusstsein, dass ihn seine Bandkollegen ablehnen würden. Doch das konnte die absichtlich schlechten Reime und die kaum auszumachende Melodie nicht stoppen. Und ich kann es mir gut als einen Pausenfüller auf Konzerten bei kleinen Umbaus oder technischen Problemen sehr gut vorstellen. Wir kennen das ja noch vom MTV unplugged. Dafür wäre es gut geeignet, da sie sich dabei gegenseitig so schön in den Reime-Wahnsinn treiben könnten.

Der Hidden Track am Ende des 2. Teils „Hamburg“ ist eine Liebeserklärung an die Hansestadt und weckt ein angenehmes Fernweh nach einem Ort an dem man schon lange nicht mehr war. Er hat eine längliche sonnengelbe Form, die nach unten breiter wird und in einem kleinen tomatenroten See schwimmt. All diese ziemlich kleinen gelben Elemente habe ich gleichmäßig über die Leinwände verteilt. Ihre Strahlkraft kommt jedoch nur in Teil II vollends zu Geltung, weil dieser generell dunkler ist.

Pastelltöne erklingen in beiden Teilen. Beim ersten in „Kaum mehr als ein Traum“ erscheinen sie als mehrere Lagen ausgefranster Fetzen in Aquamarin, Grasgrün, verblasstem Mint und einem beerigen Violett.

Bei der großartigen 40er-Swing-Nummer „Bestimmt...!“ entspringt der Beat aus einer mintigen, staubgrünen Wolke in eine meeresgrün-weiße Bahn und lässt die Farben im Takt tanzen. Es ist das ausgereifteste Lied und hätte mehr als einen Platz auf dieser Platte verdient.

„Bist du dabei?“ war die erste Produktion in seinem Heimstudio, indem seine ersten beiden Soloalben entstanden. In den frühen 2000ern wollte Farin sich als Songwriter für andere Künstler*innen probieren, doch diese astreine Popnummer wurde abgelehnt und beendete diesen Karriereversuch damit sofort wieder. Dabei ist sie gar nicht so übel, wenn man es leicht und nett mag. Optisch übersetzt er sich in ein kompliziertes Gebilde. Es beginnt mit einer Platte in weiß und sumpfigen Grün auf der ein roter Ring liegt. Darauf liegt ein Dreieck, das zur Hälfte Rosa und zur Hälfte gestreift ist. Aus den Streifen in Beige, Schilf-, Pastell- und Grasgrün erwächst eine Umrandung gemischt aus diesen vier Tönen. Die Spitze des Dreiecks habe ich zur rechten oberen Ecke ausgerichtet, weil es sich so passend in die Gesamtkomposition einfügen kann.


(Quelle: Farin Urlaub Presse)


Rosa höre ich erstaunlich viel und fast immer als Umrandungen für Weiß, welches sich von den unbunten Farben am häufigsten zeigt, und diese Ränder konnte ich nutzen um Verbindungen herzustellen. Die große, runde Form am rechten Rand bei dem sich der rosafarbene Rahmen zu einem Standfuß bildet mit dem es selbstbewusst in der Bildfläche steht, ist „Ich will dich nicht mehr“. Auf der anderen Seite an der Grenze zu Teil I liegt „Ein guter Tag“. Während der Refrain heftig drauf losbrettert, umfließt das Rosa ruhig einen langen, weißen Quader. Darin verarbeitet Farin seine Reaktionen auf den Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium am 26. April 2002. Aus Sicht des Täters versucht er irgendwie Verständnis für diese sinnlose Tat aufzubringen und überarbeitet hätte sogar ein Albumsong werden können.

Darunter auf der anderen Leinwand hängt „Was wir sind“. Schmaler und länger, aber Rosa strömt ebenso vorbei. Diese kleine Wir gegen den Rest der Welt-Mitgröhl-Hymne schrieb er für die Fans für das (so dachte man es damals jedenfalls) letzte Die Ärzte-Album „Das ist nicht die ganze Wahrheit“ (1988). Eine tolle Idee, die über fünfzehn Jahre später in „Du bist nicht allein“ viel besser umgesetzt wurde. Den Refrain zog er später nochmal für „Der Misantroph“ auf der „Planet Punk“ (1995) heran.

Richtig satte Pinkfacetten von Flamingo über Barbie Pink bis Kaugummi sammeln sich in einem umgedrehten Herzen mit kirschroter Umrandung an dem ein Blatt in Petrol klebt. Dieses bezaubernde Gebilde ist „Date avec moi“ und wurde für „Jazz ist anders“ (2007) geschrieben.

Das Mitte der 90er entstandene „Mein Mädchen“ weckt Erinnerungen an Die Ärzte ganz früher und besteht aus zwei Teilen. Ein weißer Kreis steckt in einem wassermelonepinken Dreieck an dem eine blutrote Welle vorbeirauscht und dabei ein gelbes Viereck mitreißt.

Das quadratische Weiß mit den welligen Rändern daneben höre ich in „Ich bin ein...“. Mit seinem schwammigen Fuß in dreckigem Grün klammert es sich an eine dunkelbraune Stufe, die umzukippen droht. Dann wäre da noch eine weiße Ellipse in „Bier in mir“ mit einem sandig-beigen Anhang, der in seinem Farbverlauf das rennende Schlagzeug wiedergibt. Ich finde es ganz lustig und für eine B-Seite hätte es locker gereicht.

Nachdem der damalige Manager der Die Ärzte Conny Konzack 1986 die Songs zum dritten Album hörte, war er kurz davor die Aufnahmen abzusagen. Mit Liedern wie „Für immer“ und „Ist das alles?“ konnten Bela und Farin das Schlimmste verhindern. Aber „Bernd hat es gemacht“, die wahre Geschichte eines jungen Mannes, der endlich seine Jungfräulichkeit verlor, stieß auf wenig Begeisterung. Mir gefällt zumindest seine Wohlfühl-Melodie, gleichzeitig habe ich noch nie etwas gehört, das so derbe nach 80er klingt. Es liegt bis unten auf dem Rand als ein simpler weißer Quader mit grünen und blauen Sprenklern, die mir die Möglichkeit boten, das ansonsten detaillose Bild zu verzieren.

Kommen wir zu den schwarzen Parts. In zwei langen Streifen, die noch einen feuerroten einschließen, erhebt es sich schräg ins Bild empor. „Fucking hell“ ist ein dreckiges Stück von Punkrocksong mit einem ziemlich platten Text. Ich muss gestehen, gerade deswegen gefällt es mir so gut und das coole Instrumental hätte ruhig noch irgendwo Verwendung finden können.

Die beiden größten und dunkelsten Objekte habe ich zum optischen Ausgleich in gegenüberliegende Ecken gesetzt. Da wäre der imposante Bogen ganz unten rechts von „Schatten“, dessen Schwarz in ein Nachtblau wabert und dem Weiß entgegen drängt. Obwohl mir die Farbkombination zusagt, strengt es mich sehr an sie zu hören. Musikalisch inspiriert vom Psychobilly der Meteros, benutzte Farin ein Delay-Gerät (welches eigentlich für Gitarren ist) um Effekte auf den Gesang zu legen.

„Lieblingslied“ (Nomen est Omen) eine große Fläche in Schwarz und Palisander wurde mit zwei sämig hellgrünen Schrauben, die in eine ockerfarbene und eine rote Öffnung gedreht sind, angebracht. Es wird von einem Sockel gestützt, der von einem sumpfigen Grüngrau langsam zu einem leuchtenden Sonnenblumengelb überblendet. Der Song hätte mit seiner fatalistischen Stimmung ein richtiger Live-Kracher werden können, doch leider lehnte ihn das Racing Team ab.

Relativ mittig in der oberen Leinwand ist „Luzifer“ platziert. Ein Kreis in einem satten Braun mit einem brennenden Kranz aus orangen und gelben Schriffeln, der nach links driftet und so die Bewegung von „Fucking hell“ weiterführt. Der Text handelt von der Huldigung Satans und war Farins Antwort auf Briefe und E-Mails von aufrichtig besorgten Christ*innen, die Angst um die drei jungen Männer in den Fängen des Rock´n´Roll hatten. Allein schon dem Orgel-Intro wegen zeigt der Song Potenzial und hätte überarbeitet vielleicht auf „Endlich Urlaub!“ gepasst.

Dann gibt es noch „Hier sind Die Ärzte“, eigentlich als Showopener gedacht, in einem stumpfen Nussbraun, das unten so etwas wie einen Greifer ähnlich einem Insekt hat. Ich habe es hinter „Bestimmt...!“ gelegt, damit die Pastelltöne in der dunklen Ecke noch besser zur Geltung kommen.

„Antimattergun“ ist die Vorversion der 2014er-Single „iDisco“ und der einzige graue Song. Eigentlich eine fette Nummer übersetzt sie sich in einen schüchternen Streifen in Granit, der unauffällig auf „Ein guter Tag“ liegt.

Als Einsteigeralbum ist „Berliner Schule“ trotz allem gänzlich ungeeignet. Wer Zugang zum musikalischen Werk Farin Urlaubs sucht, sollte mit „Debil“, „Planet Punk“ oder „Endlich Urlaub!“ anfangen.


(Art & Design: Chris Lippert, Niraf Alburu, Kathi Wahren)


Warum wurde dieses Album also überhaupt veröffentlicht? Im Vorwort des Booklets, das FU mit vielen Hintergrundinformationen gespickt hat, erklärt Bela B: „Der Mann kackt Songs!“ Und für Die Hard-Die Ärzte-Fans ist diese Compilation eine kleine Entdeckungsreise durch die Geschichte der Besten Band der Welt und deren Stilentwicklung. Um einige Lieder wäre es richtig Schade gewesen, wären sie in einer Schublade verrottet. Zudem ist sie ein interessantes Zeugnis von Farin Urlaubs Furchtlosigkeit im Texten und Experimentieren, sei es mit Sounds oder Genres.




Schönes erstes Maiwochenende!




Eure TinTro






Zitat aus "Bitte lass mich schlafen"



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