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AutorenbildTinTro

Synästhesie & Co. - Misophonie

Ich schieße Euch heute gleich einen neuen Teil von „Synästhesie & Co.“ hinterher. Diesmal geht es um ein Wahrnehmungsphänomen, das tatsächlich oft mit Synästhesie, sofern diese mit Hören zu tun hat, auftritt. Genaue Zahlen habe ich dazu nicht gefunden, aber für beide Konditionen werden die Dunkelziffern so hoch eingeschätzt, dass es eh müßig wäre darüber Vermutungen anzustellen.

Also, vielleicht habt Ihr ja schon mal von Misophonie gehört? Auch bekannt als „Selektives Geräuschempfindlichkeits – Syndrom“ oder „Selektive Geräuschintoleranz“. Wir bleiben lieber bei „Misophonie“. Übersetzt bedeutet das „Hass auf Geräusche“. Glaubt mir, diese Beschreibung trifft voll ins Schwarze!

Sie wird seit der Jahrtausendwende erforscht und wurde 2001 erstmals von den amerikanischen Neurowissenschaftlern Margaret und Pawel Jastreboff beschrieben.

Übrigens nicht zu verwechseln mit: Hyperakusis, dabei nehmen die Betroffenen manche Geräusche lauter wahr als sie sind und Phonophobie, die Angst vor bestimmten Geräuschen auslöst.

Menschen mit Misophonie haben heftige Reaktionen, wie Wut und Ärger, auf gewisse Geräusche, sogenannte Trigger. Das sind in den meisten Fällen Töne, die Menschen von sich geben, wie Husten, Niesen, Schlucken, Räuspern, Gähnen, Seufzen etc.


Wir haben 100 Misophoniker*innen gefragt: Welches Geräusch macht Euch am Aggressivsten? Topantwort: Schmatzen.


Das gilt natürlich nicht für alle. Jeder hat seine individuellen Hassstifter. Doch Kauen ist sowas wie unser aller Kryptonit.

Ich könnte außerdem jedes Mal ausflippen, wenn etwas runterfällt und ordentlich scheppert. Raschelnde Plastiktüten sind auch kritisch. Kürzlich fiel mir auf, dass ich Backpapier immer ganz vorsichtig zusammen falte, weil ich denke, es würde alle um mich herum auch stören.

Plärrende Babys und Kleinkinder – schrecklich, schrecklich, SCHRECKLICH!

Als Kind hatte ich eine Puppe, die heulen konnte. Nicht weinen, heulen. Ich habe sie jedes Mal in die Ecke geschmissen, wenn sie zu flennen anfing. Ich konnte das einfach nicht hören. Ansonsten habe ich gerne mit ihr gespielt, sie war sogar einer meiner Lieblinge.

Reflexartig reagiere ich auf alle meine Trigger mit Aggression und leichtem Ekel. Abgeschwächtere Formen zeigen „nur“ Irritation oder Frust. Aber zu sagen, man wäre genervt, wäre absolut untertrieben. Solche Situationen lassen einen fahrig, unkonzentriert werden und setzen einen ziemlich unter Stress.

Ich werde dann von einer Sekunde zur nächsten von Dr. Jekyll zu Mr. Hyde. Es kommen mir Gedanken, die ich nie aussprechen würde und unter normalen Umständen nicht hätte. Selbstverständlich ist mir klar, dass das irrationale Reaktionen sind. Ich kann mich aber dem Beleidigen und dem Wunsch gewalttätig zu werden nicht erwehren. Trotzdem hat man hinterher Schuldgefühle. Im Hinterkopf denkt man immer noch, man müsse das doch unterbinden können.

Problematischerweise kommt hinzu, dass es meistens explizit Geräusche von nahe stehenden Personen sind. Für einige reicht es schon aus wie jemand Silben oder einzelne Vokale und Konsonanten betont.

Simples Ohren zuhalten nützt da rein gar nichts.Auch der Versuch, mich auf etwas Anderes zu fokussieren bleibt meist ohne Erfolg. Hat man einmal einen Trigger registriert, lässt er sich nicht mehr ignorieren. Ich würde dann am liebsten den Raum verlassen, mich irgendwie der Situation entziehen. Manche möchten regelrecht in Tränen ausbrechen.

Aus diesem Grund fahre ich ungern mit der Straßenbahn. Das möchte ich eigentlich öfter tun, weil es umweltfreundlicher ist, aber ich ertrage es nur schwer. Wenn noch jemand dabei ist mit dem ich mich unterhalten kann, schaffe ich es aber meistens ohne getriggert zu werden. Ein prägendes Erlebnis war eine Fahrt quer durch Erfurt in einer fast leeren Bahn. Zwei, drei Reihen hinter mir kaute ein Mann in Zeitlupe und mit offenem Mund (!) ein Leberwurstbrot. Ich stand auf und setzte mich soweit weg wie möglich und dieser Drecksack setzte sich einfach in die Reihe neben mich. Manchmal denke ich, die Leute produzieren mit voller Absicht solche Geräusche bloß um mich zu ärgern. Dieser Typ ließ im Grunde keinen Zweifel daran.

Misophonie kann sich zusätzlich auf einen Zwang zur Nachahmung erweitern. Man sieht jemanden mit dem Fuß wippen oder mit den Fingern auf der Tischplatte trommeln und muss das imitieren, ob man will oder nicht. Aber auch ohne diesen Drang können Handlungen ein Trigger sein. Ich kann nicht hinsehen, wenn jemand ein Eis leckt. Es gab da auch mal eine Oreo-Werbung... na ja, egal. Ich will gar nicht daran denken. Ihr könnt Euch sicher vorstellen, worauf ich hinaus will.

Einige geben an, dass sich ihre misophonische Wahrnehmung nach dem Genuss von Alkohol und Süßigkeiten verstärkt. Da muss ich mal drauf achten. Ich nehme ja beides relativ häufig zu mir.

Allgemein gilt für alle außergewöhnlichen Arten der Sinnesreizaufnahme: Die Forschung steht noch ganz am Anfang und wirkliche Expert*innen gibt es zu keinem Phänomen.

Misophoniker*innen hören normal, aber es wird davon ausgegangen, dass das auditive System sowohl mit dem autonomen wie dem limbischen Nervensystem verbunden ist.

Andere Forscher sprechen von einem neurologischen oder psychischen Problem. Sie glauben, das Syndrom entsteht durch eine negative Konditionierung. Die verhassten Geräusche würden im Unterbewusstsein mit traumatischen Ereignissen verknüpft. Die umgekehrte Theorie wird auch vertreten. Erst die Störung verursache diese negative Verknüpfung. Die Misophonie sei die Voraussetzung für das Erlernen der unterbewussten Verbindung von Ton und Emotion. Sicher ist sich aber niemand, da die Erforschung der vielfältigen Arten der Sinneswahrnehmung noch recht jung ist und bisher kaum konkrete Aussagen über deren Entstehung oder Funktionalität machen kann.

Normalerweise beginnt Misophonie wohl bereits im Kindesalter, kann aber auch erst später auftreten. Bei mir hat sie sich mit der Zeit verstärkt, so dass sie mir erst in meinen frühen Zwanzigern auffiel. Durch meine Recherchen zur Synästhesie kam ich darauf, was mit mir los ist, da der Begriff immer wieder im Zusammenhang mit ihr auftauchte.

Können sich ein paar von Euch in meiner Schilderung wiedererkennen? Misophonie soll Studien zufolge nämlich gar nicht so selten sein. Jeder 10. - 20. sei betroffen. Wie bei der Hochsensibilität gibt es verschiedene Stufen der Intensität. Wenn Ihr den Grad Eurer Geräuschintoleranz herausfindet möchtet, empfehle ich Euch einen Test, auf den sich die Mehrheit der Wissenschaftler*innen und Therapeut*innen beruft. Er wurde von der Audiologin Dr. Martha Johnson entwickelt.

Hier der Link dazu:



Ich erreiche einen Wert von 40, was bedeutet mein Zustand ist akut. Trotzdem vermute ich, bloß die moderate Form zu haben. Das heißt, ich komme im Großen und Ganzen ohne Hilfsmittel, wie geräuschunterdrückende Kopfhörer, Noiser oder gar eine Therapie zurecht. Dennoch spreche ich nie darüber, weil man sowieso nur auf Unverständnis stößt.

Im Laufe des Lebens können eventuell weitere Trigger hinzu kommen. Ich bin mit meinen bedient und hoffe sehr, es bleibt dabei. Wie es ist mit einer viel stärkeren Ausprägung als meiner zu leben, erzählt Euch eine junge Frau namens Denise im folgenden Video. Ich wusste, dass Misophonie krass sein kann, aber ihr Geschichte hat selbst mich überrascht.




Im Gegensatz zu ihr lebe ich eigentlich in zwei Extremen. Ich habe das Glück, zu sehen, was ich höre. Dadurch gibt es im Gegensatz auch Geräusche, die ich richtig mag, weil sie sehr schön aussehen. Das sind vor allem Klickgeräusche. High Heels auf allen möglichen Böden, aber am liebsten Asphalt (fast kreisrunde graue Flecken, dickflüssig, manchmal von feinen dunklroten oder -violetten Linien durchzogen); das Klappern vom Kaffeeservice (weiße Quadrate mit mintgrünem Quader am linken Rand) oder das Tippen auf einer Tastatur (viele kleine graue Pünktchen).

Wenn ich den Blinker in meinem Auto setze (schwarze, trichterähnliche Form), empfinde ich, so verrückt es klingt, die pure Freude.

Leider geht es Denise nicht so. Wie sie im Video beschreibt, können auch körperliche Schmerzen eine Reaktion auf einen Trigger sein. Im schlimmsten Fall bleibt Betroffenen nichts Anderes übrig als sich zu isolieren. Sie führen dann kein normales Sozialleben mehr und können froh sein, wenn sie von zu Hause aus arbeiten können.

Misophonie gilt als Krankheit, ist jedoch offiziell nicht anerkannt. Das macht es uns schwerer ernst genommen zu werden und adäquate Therapien zu bekommen.

Apropos, Therapie! Hypnose verspricht zwar keine vollständige Heilung (die ist wahrscheinlich eh ausgeschlossen), soll jedoch Linderung verschaffen. Man gewinne wieder mehr Kontrolle über seine Reaktionen zurück und manchmal gelinge es sogar einige Trigger abzustellen. Weitere Informationen plus Erfahrungsberichte könnt Ihr Euch ebenfalls über den obigen Link dazu einholen.

2020 wurde „Deutsche Misophonie Hilfe e.V.“ gegründet. Auf der Seite des Vereins könnt Ihr Euch mit Leidensgenossen austauschen und den aktuellen Stand der Forschung erfahren.


Ich persönlich überlege, mir feste Auszeiten für Musik-Farb-Meditationen zu nehmen. Cooles Album, z.B. „Das ist nicht die ganze Wahrheit...“ von Die Ärzte, in den Player, Füße hoch, Augen zu und einfach nur die Lieder beobachten. So bereite ich mich manchmal auf ein Bild vor und es entspannt mich total. Und Geräuschintoleranten, sowohl Empfindlichen als auch Hassern, wird zu regelmäßigen Entspannungsübungen geraten.

Misophonie verursacht große Schwierigkeiten durch und mit unserer Umwelt,obwohl es so ein hübsches Wort ist. Es hat gerade, scharfkantige Buchstaben. Das M in einem eleganten Schwarz, iso strahlend Weiß und phonie in grellem Pink.

Abschließend sei aber eine Sache doch noch positiv zu vermerken: Angeblich sind Misophoniker*innen kreativer und intelligenter als der Durchschnitt, weil wir mehrere Reize gleichzeitig verarbeiten können.

Eigentlich macht uns genau dieser Punkt für die Forschung interessant, trotzdem schleppt sie sich nur langsam voran. Misophoniker*innen werden sich sicher nochmal zwei weitere Jahrzehnte, wenn nicht länger, mit Missverständnis und Ablehnung herum schlagen müssen.


Hoffentlich trägt dieser kleine Eintrag zum Besseren Verständnis für Misophonie bei! Nicht nur bei Außenstehenden, sondern ebenso bei Betroffenen.

Ihr seid nicht allein und Ihr seid nicht bekloppt. Eure Reizverarbeitung ist gestört.

Aber vielleicht sind ein paar der Tipps in den verlinkten Webseiten hilfreich oder Ihr findet eine Selbsthilfegruppe in Eurer Nähe oder online. Auf jeden Fall viel Glück und haltet die Ohren steif!


Also dann, Gute Nacht! Süße Träume!


Eure TinTro

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